Eine meiner Klientinnen ist Künstlerin.
In einem unserer Gespräche zeigte sie mit eine Mappe mit ihren Werken.
Von dem Bild ‚Schneckenfrau‘ war ich sofort begeistert, und zwar wegen seiner Doppeldeutigkeit.
Ich fragte die Künstlerin, ob ich dieses Werk für meine Ermunterungstexte verwenden dürfe,
und ob sie mir einige Informationen zur Entstehung des Bildes zukommen lassen könne.
Sie (Petra Matthaei, Anm. d. Red.) bejahte beides, und deshalb lasse ich sie jetzt erst einmal selbst sprechen:

„Das Bild heißt Schneckenfrau und entstand 1984 für meine dritte Ausstellung in Bremen als Teil einer Porträtserie.
Das Schneckenhaus auf dem Kopf war eine spontane Eingebung, die mir gut zum Gesichtsausdruck und dem blauen Hintergrund zu passen schien.
Das Bild hatte ich mit Pastellkreide angefertigt, die immer fixiert werden muss, damit sie auf dem Papier haftet.
Leider war die Düse der Sprühdose defekt, und es landeten viele dicke Tropfen auf der Zeichnung, die nicht mehr verschwinden wollten.
Ich ärgerte mich sehr …
Schließlich hatte ich eine weitere Idee und verwandelte die hässlichen Sprühkleckse in Regentropfen.
Dann dachte ich: ‚Was mir aus Versehen doch für eine passende Darstellung meiner besonderen Befindlichkeiten, über die ich damals nicht sprechen sollte, wollte, konnte, gelungen
ist!‘
Zu diesem Zeitpunkt hörte ich schon nicht mehr gut, und es war schwer, über eine Behinderung zu schweigen, mit der ich täglich konfrontiert war und die mich beeinträchtigte.
Ich stand buchstäblich im Schneckenhaus gefangen im Regen.“

Das war 1984.
Inzwischen sind 40 Jahre vergangen, und die ‚Schneckenfrau‘ gibt es noch immer.
Aber wenn ich sie heute betrachte, dann sehe ich sie mit ganz anderen Augen als die
Künstlerin.
Für mich ist diese Schneckenfrau in den letzten 40 Jahren nämlich so aus sich
heraus gewachsen, dass sie ihrem Schneckenhaus entwachsen ist.
Sie steht schon lange nicht mehr von ihm gefangen im Regen.
Nein, sie hat diesem Schneckenhaus in ihrem Kopf inzwischen genau den Ort zugewiesen, wo es hin gehört.
Und ihm zugleich die Funktion gegeben, die es hat: nämlich als winzig kleine Cochleae – oder soll ich besser sagen – als winzig kleine Hörschnecken – hinter ihren beiden Mittelohren!
Auf diese Hörschnecken gibt sie gut acht.
Und manchmal sorgt sie sich auch um sie.
Das kann man auf dem Bild immer noch deutlich erkennen.
Aber sie lässt sich von ihnen nicht mehr so einengen, dass sie darüber Tränen vergießt.
Sie hat ja bereits vor 40 Jahren begonnen, über ihre Behinderung zu reden, indem sie dieses Bild malte.
Und sie wird darüber auch nicht mehr schweigen.
Der Blick der ‚Schneckenfrau’ hat sich geweitet.
Mit wachen Augen blickt sie so durch die Regentropfen hindurch aus dem Bild heraus, dass ich auf Grund der vorhin schon benannten Doppeldeutigkeit dieses Bildes nun folgendes sehe:
Sie und ihre Hörschnecken haben ein gutes Miteinander gefunden.
Und: Ihr Schneckenhaus ist zu einem schönen, die ‚Schneckenfrau‘ schützenden und schmückenden Hut geworden.
Beate Gärtner, Schwerhörigenseelsorgerin