Ich sitze im Wartezimmer. Auf meinem Schoß halte ich eine kleine, gehäkelte Schnecke.

Sie streckt mir ihre beiden Fühler entgegen und lacht mich an:
Genau, ihr habt richtig gelesen!
Ich sitze im Wartezimmer.
Es ist das Wartezimmer vom Hörzentrum der Medizinischen Hochschule Hannover.
Ich habe mich da mal als Patientin eingereiht.
Nach dem letzten Ohrenarztbesuch will ich abklären lassen, ob für mich ein ‚Schneckenimplantat‘ in Frage kommt.
Aber ich will lieber den korrekten Begriff benutzen, damit ihr nicht irritiert seid: ‚Cochlea-Implantat‘ heißt es richtig.
Mit mir im Wartezimmer sitzen die unterschiedlichsten Patienten und Patientinnen:
Einige tragen Hörgeräte hinter den Ohren, andere haben dort ein Verbandspolster.
Wieder andere tragen zwar nichts hinter den Ohren, dafür aber ein Smartphone in der Hand, mit dem sie Sprache zu Text werden lassen.
Und noch andere tragen hinter den Ohren Cochlea-Implantate.
Die mit den Hörgeräten lassen prüfen, ob sie für ein Cochleaimplantat überhaupt infrage kommen.
Die mit dem Verband sind gerade frisch operiert und bekommen ihren ersten Probeton.
Die mit dem Smartphone durchlaufen die Erstanpassung.
Und die mit den Schnecken-Implantaten kommen zum Nachstellen.
Ich sehe alte und junge Leute und viele – auch sehr kleine – Kinder.
Dann blicke ich noch mal auf die Schnecke in meinem Schoß.
Wie zierlich und putzig sie aussieht!
Mit ihrem orangen Körper und ihrem hellgrünen Schneckenhaus.
Und mit ihren zwei runden, schwarzen Knopfaugen und dem freundlich-hellgrünen Lachen.
Diese Schnecke wurde mit großer Sorgfalt von liebevollen Händen gehäkelt.
Aber nicht nur diese.
Sie hat nämlich viele weitere Artgenossen.
Die alle als ‚Trösterli‘ an die kleinen Kinder verschenkt werden, wenn sie im Hörzentrum an ihrer Schnecke behandelt werden.
Mich hat das beeindruckt.
Da schwingt nämlich etwas mit, das weit über eine rein medizinische Behandlung hinausgeht und die Seele berührt.
Meine Seele hat diese kleine Schnecke jedenfalls zum Schwingen gebracht, als sie mir im Wartezimmer ihre beiden Fühler entgegen gestreckt und mich angelacht hat.
Wen es interessiert, hier das Ergebnis meiner Untersuchung:
Obwohl ich an Taubheit grenzend schwerhörig bin, höre ich mit gut eingestellten Hörgeräten noch so gut, dass ich noch kein ‚Schneckenimplantat‘ benötige.

Beate Gärtner, Schwerhörigenseelsorgerin