An meinen Vater
Du warst mir nicht in allem ein Vorbild.
Aber für manches bin ich dir von Herzen dankbar und werde es nie vergessen.
Deinen Humor, deine Lebensfreude – davon hast du mir viel mit auf den Weg gegeben.
Dass du schwerhörig warst, ist mir erst spät bewusst geworden.
Anders kannte ich dich nicht.
Als ich Mitte der 60er Jahre als deine jüngste Tochter das Licht der Welt erblickte, hattest du dich schon fast 50 Jahre lang einohrig mit dem Leben arrangiert.
Was war eigentlich der Grund dafür, dass du zwar zwei Ohren an deinem Kopf hattest, aber nur eines den Dienst versah, der von ihm zu erwarten war?
Ich habe dich nie gefragt.
Wahrscheinlich wusstest du es selbst nicht.
Eine Kinderkrankheit? Eine Mittelohrentzündung? Eine Hirnhautentzündung?
Früher hat niemand danach gefragt.
In der Schule musstest du vorn in der ersten Bank sitzen – als Protestant in einer erzkatholischen Umgebung.
„Die sind so schwarz, die werfen noch im Kohlenkeller Schatten!“
Lachend hast du gern Geschichten aus deiner Kindheit im Emsland erzählt.
Von der strengen Lehrerin, die dich so manches Mal nachsitzen ließ, weil du angeblich mal wieder nicht aufgepasst hattest.
Ich brauche nicht viel Phantasie, um mir vorzustellen, dass sie nicht immer ganz falsch lag.
Auch als Kind hattest du es wahrscheinlich schon faustdick hinter den Ohren.
Aber es hat dich wahrscheinlich auch mehr als einmal haarsträubend ungerecht erwischt.
Weil du nicht gehört hast, was die Lehrerin gefragt hat.
Weil du nicht hören konntest, was die Lehrerin mit ihrer hysterischen Pieps-Stimme gefragt hat.
Die Schule hast du mit Freuden hinter dir gelassen.
Wie dein Vater bist du Landwirt geworden.
Ein kleiner Hof zwar, aber du warst Landwirt mit Leib und Seele.
Das war sicher ein großes Glück für dich.
Den Kühen und Schweinen war es egal, dass du ‚was an den Ohren‘ hattest.
Der alte Deutz, auf dem du gefühlt dein halbes Leben verbracht hast, knatterte ohrenbetäubend.
Dich hat das nicht gestört.
Für dein Können und deine Leistungen bist du vielfach ausgezeichnet worden.
Und das, obwohl die Großbauern andere Möglichkeiten hatten als du.
Das hat dich stolz gemacht.
Du hast dich nicht behindern lassen, bis ins hohe Alter nicht.
Einen Schwerbehindertenausweis hattest du nie.
„ Behindert? So ein Quatsch!“, hättest du gesagt, und die für dich typische wegwerfende Handbewegung dazu gemacht.
„Ich sitze doch nicht im Rollstuhl.
Und die Zwölf ist bei mir auch noch in der Mitte – wie kommst du darauf, dass ich behindert bin?“
Du hast dir Respekt verschafft:
Jeder wusste: Johann hört schlecht.
Und jeder hat aufgepasst, dass er das richtige, das ‚gute‘ Ohr erwischt.
Was soll ich sagen?
Es war einfach selbstverständlich.
Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem du dein erstes Hörgerät bekommen hast.
Das muss ein Wendepunkt in deinem Leben gewesen sein.
Du hast das Leben immer mit Humor genommen, aber von diesem Tag an habe ich dich lebendiger und fröhlicher in Erinnerung.
Es muss Mitte der 70er Jahre gewesen sein, als das Wort ‚Brillenschlange‘ noch ein geflügeltes Wort für Sehhilfenträgerinnen war.
Der große graue Klotz hinter dem Ohr hat dich nicht gestört.
Ständig piepte es bei dir.
Wenn die Batterien leer waren, schicktest du mich in die nahe gelegene Stadt, zu deinem Akustiker, um Nachschub zu besorgen.
Ich mochte diesen älteren Herrn, der mit missionarischem Eifer und engelsgleicher Geduld Hörgeräte vertrieb.
Von da an hieß es ‚Nicht ohne mein Hörgerät!‘
Jahre später wurde ein winziges Mikrofon an den Lautsprecher des Fernsehers angesteckt.
Ein kleiner grüner Kasten sorgte dafür, dass der Ton auf dein Hörgerät übertragen wurde.
Deine Frau und deine Kinder atmeten auf.
Endlich Fernsehen ohne den Höllenlärm, den der voll aufgedrehte Lautstärkeregler im Haus verursachte.
Auch den Tag, an dem dieses kleine Wunder Einzug in dein Leben erhielt, werde ich nicht vergessen.
Noch heute danke ich dir dafür, dass du dich so intensiv um deine Ohren gekümmert hast.
Dass du jede Hilfe in Anspruch genommen hast, die erdenklich war.
Dass du allen und jedem gesagt hast: Nimm ‚das gute Ohr‘!
Dass du immer gesagt hast: Mach die Musik aus, wenn du mit mit sprichst!
Dass du gesagt hast: „Vergiss nicht, dass du um 22 Uhr zu Hause sein musst!
Du weißt, ich höre dich, wenn du die Treppe hochgehst.“
Dein Augenzwinkern dabei wäre nicht nötig gewesen.
Du hast nie einen Zweifel daran gelassen, dass du spätestens um 21.59 Uhr die Hörgeräte abgelegt hast …
Schade, dass ich dir das nie gesagt habe.
(Verfasserin unbekannt)